Das türkische Theater reicht von dramatischen Spielen, die in Anatolien vor der Landnahme der Türken heimisch waren, bis zum zeitgenössischen türkischen Theater. Primitive Zeremonien, im Namen der Götter durchgeführte Rituale, Beglückwünschungen im alltäglichen Leben und Trauer- oder Fruchtbarkeitsriten der alten vorderasiatischen Zivilisationen haben sich im Laufe langer Jahre in Schauspiele verwandelt. Auch in der seldschukischen und osmanischen Epoche hat man zu Anlässen wie Hochzeiten, Beglückwünschungen oder Geburten Feierlichkeiten durchgeführt, in denen Stücke mit dramatischen Charakter zur Schau gestellt wurden. Bei den Schauspielen in der Tradition des Volkstheaters denkt man in erster Linie an öffentliche Märchen- und Geschichtenerzähler, an Marionettenspiele, an kürzere Stücke mit den beiden Witzfiguren Karagöz und Hacivat oder an "Ortaoyunu" genannte alttürkische Volksschauspiele. Das türkische Marionettenspiel, das östlichen Ursprungs ist, erlebte eine bis zum Ende des 19.Jahrhunderts andauernde Entwicklung. Der "Meddah" genannte öffentliche Märchen- und Geschichtenerzähler ist eine Synthese der aus dem türkischen Mittelasien stammenden Tradition des Geschichtenerzählens und der islamischen Kultur; die betreffende Kunst hat im 16. Jahrhundert ihre endgültige Gestalt angenommen. Das "Ortaoyunu" genannte Theater dagegen ähnelt sehr dem "commedia dell'arte" genannten italienischem Volkstheater der Renaissance-Zeit und ist die entwickeltste Form des traditionellen türkischen Theaters. Es vereinigt Elemente der "Karagöz"-Stücke, des Marionettentheaters und der öffentlichen Erzählkunst und erlebte Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhundert sein goldenes Zeitalter. Dieses Ortaoyunu konnte mit dem Theater nach westlichem Muster, das mit Beginn der Tanzimat-Periode 1839 sich in der Türkei zu verbreiten begann, noch lange Zeit erfolgreich konkurrieren.
Mit der Übernahme des westlichen Theatermodells in der Tanzimat-Zeit ging man beim Theater zum geschriebenen Text über. Man übersetzte fremde Theaterstücke oder schuf Nachbildungen bestimmter Stücke; aber türkische Schriftsteller begannen auch mit der Dichtung eigener Theaterstücke. In einigen Stadtteilen İstanbuls, in den Serails von Çıra¤an, Yıldız und Dolmabahçe, aber auch in Städten wie İzmir, Bursa, Adana oder Ankara errichtete man Bühnen und gründete private Theaterensembles. Auch das unter dem Namen "Darülbedayi-i Osmani-ye" in İstanbul 1914 gegründete Schauspielhaus spielte bei der Entwicklung des sich in der Anfangsphase befindlichen türkischen Theaters eine wichtige Rolle. Den ersten großen Beitrag in der Zeit der Republik bei der Entwicklung des Theaters in der Türkei zu einem modernen Kunstzweig leistete der berühmte Künstler der Bühne Muhsin Ertu¤rul, der 1927 die Leitung des Darülbedayi übernahm. Mit den den Zuschauern dargebotenen übersetzten zeitgenössischen Theaterstücken, mit seiner Unterstüzung für heimische Autoren, mit dem Dekor, seinen Inszenierungen und seinem zeitgemäßen Darstellungsstil hat Muhsin Ertu¤rul die Grundsteine des modernen türkischen Theaters gelegt. Sein Darülbedayi wurde 1931 mit offziellen Beschluß der Stadtverwaltung İstanbul unterstellt und erhielt 1934 den Namen "İstanbul Şehir Tiyatrosu" (Städtisches Theater İstanbul). Im Rahmen dieses Theaters wurde 1935, wieder auf Initiative von Muhsin Ertu¤rul, das erste Kindertheater in der Türkei gegründet
Parallel zu diesen wichtigen Entwicklungen wurde 1936 das Staatliche Konservatorium, mit Theaterabteilung, in Ankara eröffnet. Eine Gruppe der ersten Absolventen haben 1941 die Studiobühne gegründet. Im Juni 1949 wurde das Gesetz zur Gründung des Staatstheaters und der Staatsoper erlassen, mit dessen Inkraft tretung die Studiobühne ihre Aufgabe bei der Aufführung von Stücken dem Staatstheater überließ. Die schon zur Zeit der Studiobühne veranstalteten Tourneen fanden nach der Gründung des Staatstheaters regelmäßig statt und fanden größere Verbreitung. Die Staatlichen Bühnen führten ihre Tätigkeit verwaltungstechnisch als eine Generaldirektion aus, die als juristische Person von 1970 bis heute dem Kulturministerium zugeordnet ist. Sie hat in den 80'er Jahren in verschiedenen Bezirken Theaterdirektionen gegründet, ihr künstlerisches Personal erhöht und ist für Zuschauer in der ganzen Türkei erreichbar. Die Theater von Ankara, İstanbul, İzmir, Bursa, Adana, Trabzon, Diyarbakır, Antalya, Erzurum, Van, Sivas und Konya verfügen über eigenes örtliches künstlerisches Peronal und führen in ihren jeweiligen Regionen jeden Monat regelmäßig Tourneen durch. Diese staatlichen Bühnen veranstalten auch Festspiele für Kindertheater und große anatolische Tourneen und bieten solchermaßen in allen Bezirken, Kreisen und verschiedenen Dörfern Schauspielvorführungen an. Sie setzen jedes Jahr mehr als 125 verschiedene Stücke in Szene und verfügen über 32 feste Bühnen, von denen sich 9 in Ankara und jeweils 4 in İstanbul, İzmir und Bursa befinden.
Neben den staatlichen Theatern gibt es in einigen Bezirkshauptstädten auch städtische Bühnen, die von den Stadtverwaltungen unterstützt werden. Das älteste Stadttheater ist das Städtische Theater İstanbul, das an 5 festen Bühnen in verschiedenen Stadtteilen im Jahr durchschnittlich 20 verschiedene Stücke darbietet. Auch die Vorstellungen und Tourneen des Freiluft-Theaters in und außerhalb İstanbuls sprechen eine breite Zuschauerschicht an.
Das Repertoire der staatlichen und städtischen Bühnen in der Türkei, die damit beauftragt sind, die türkische Theaterkunst zu entwickeln und zu verbreiten, besteht zu 60% aus heimischen Stücken. Die verbleibenden 40% machen antike Theaterstücke oder klassische und zeitgenössische ausländische Theaterstücke aus. Diese Bühnen halten die Preise für die Eintrittskaren möglichst gering, um einen noch größeren Zuschauerkreis zu erreichen.
Privattheater
Die Zahl der privaten Theater, die bei der Entwicklung des türkischen Theaters immer eine bedeutende Rolle gespielt haben, hat sich nach 1950 beträchtlich erhöht. Die von Muhsin Ertuğrul, der sich 1951 vom Staatstheater trennte, gegründete Kleine Bühne ("Küçük Sahne") hat über Jahre wertvolle Schauspieler für das türkische Theater hervorgebracht.
Die 60'er Jahre waren eine Zeit, in der sich in der Türkei die Theaterensembles rasch vermehrten und sich das Theater auf allen Gebieten weiterentwickelte. Auch neue Amateurtheater entstanden in dieser Zeit, und Theaterspielen wurde eine verbreitete Aktivität. Das 1955 gegründete "Dormen"-Theater gehörte mit seiner Stückeauswahl, seinem Arbeitsstil und seiner Regie zu den erfolgreichen Ensembles der 60'er Jahre. Das mit der Saison 1960-1961 gegründete "Oraloğlu"-Theater und das 1962 gegründete Ensemble "Gülriz Sururi-Engin Cezzar" haben bis in die jüngste Vergangenheit Aufführungen auf hohem künstlerischen Niveau verwirklicht. Das 1963 gegründete Kunst-Theater Ankara ("Ankara Sanat Tiyatrosu"), das bis heute aktiv ist, hat aufgrund seiner Theaterleitung, seiner Arbeitsweise und der aufgeführten Stücke große Bedeutung erlangt. Viele der zwischen 1960 und 1970 gegründeten privaten Theater haben sich auch dem Kindertheater gewidmet. Außerdem wurden in diesen Jahren verschiedene Kindertheater gegründet.
Die meisten Gründungen aus der Zeit nach 1970 hatten nur eine kurze Dauer. Seit Mitte der 80'er Jahre erlebt man jedoch wieder eine Neubelebung. Zu den Privattheatern der letzten Jahre zählen die mit der Saison 1982-83 ihre Tätigkeit beginnende Spielgruppe "Hadi Çaman Yeditepe", das "Enis Fosforoğlu"-Theater, das Kulturzentrum "Hodri Meydan" oder das Theater im Stil eines Volkstheaters von Ferhan Şensoy. Folgende Ensembles aus den 60'er und 70'er Jahren konnten bis heute ihre Tätigkeit weiterführen: Das Kunsttheater Ankara, das Dormen-Theater İstanbul, die Spielgruppe "Kent", das "Dostlar"-Theater, das Theater "Ali Poyrazoğlu", das Theater "Nejat Uygur" und das Theater "Levent Kırca- Oya Başar".
Seit 1982 unterstützt das Kulturministerium alle privaten Theaterprojekte materiell, um bei der Aufrechterhaltung des privaten Theaterwesens behilflich zu sein, heimische Theaterschreiber zu fördern und eine verbreitende Beliebtheit des Theaters herbeizuführen.
Die Theaterliteratur
Seit der Gründung der Republik bis heute waren türkische Theaterstücke gesellschaftsbezogen und hatten einen kritisch-realistischen Charakter. In den ersten Jahren der Republik konzentrierten sich die Theaterschriftsteller darauf, die Probleme beim Übergang von der osmanischen zur modernen türkischen Gesellschaft darzulegen. Im weiteren Verlauf wurden gesellschaftliche Probleme kritischer und in größeren Zusammenhängen dargelegt; eine starke und dynamische Schriftstellergeneration begann sich jedoch erst nach 1960 zu entwickeln. Die betreffenden Schriftsteller schrieben Stücke, die sich mit der zeitgenössischen westlichen Literatur messen konnten. Einige Stückeschreiber haben sich auch von den Eigenschaften der traditionellen Schauspiele beeinflussen lassen und solchermaßen dem türkischen Theater eine nationale Identität verliehen. Haldun Taner, der der türkischen Theaterliteratur sowohl vom Inhalt als auch von der Form her eine kennzeichnende Persönlichkeit verlieh, schuf ein hauptsächlich satirisch-politisches Kabarett, in dem er alle Eigenschaften des traditionellen türkischen Theaters wirksam werden ließ, und mit seinem 1964 in Szene gesetzten Stück "Keşanlı Ali Destanı" (Die Sage von Ali aus Keşan) hat er ein heimisches episches Musical geschaffen. Zur selben Zeit haben Schriftsteller wie Güngör Dilmen, Orhan Asena, Turan Oflazoğlu oder Necati Cumalı Stücke in einer lyrischen Sprache geschrieben, deren Themen sich mit der osmanischen Geschichte, dem Leben vonVolkshelden oder mit Mythologie beschäftigten. Später hat man begonnen Stücke zu schreiben, die sich mit aktuellen politischen Themen realistisch auseinandersetzten.
Die schriftstellerische Produktion von Theaterstücken erlebt in den 80'er Jahren sowohl qualitativ als auch quantitativ eine Flaute. Erst in den letzten Jahren erfolgte ein Aufschwung, der der dynamischen Kulturpolitik des Staates zu verdanken ist. Bei der Aufführung von türkischen Stücken erfolgte ein bedeutender Anstieg, und hier waren vor allem auch ausländische Ensembles beteiligt. Großen Interesses erfreuten sich in den letzten Jahren die Stücke "Resimli Osmanlı Tarihi" (Osmanische Geschichte in Bildern) von Turgut Özakman, "Ben Anadolu" (Ich Anatolien) von Güngör Dilmen, das Stück "Kaldırım Serçesi" (Der Spatz), das das Leben von Edith Piaf erzählt, von Başar Sabuncu, "Allahaısmarladık Cumhuriyet" (Auf Wiedersehen Republik) von Selim İleri, "Geyikler ve Lanetler" (Zuhälter und Verdammte) von Murathan Mungan, "Abdülcanbaz" von Turhan Selçuk, "Çok Tuhaf Soruşturma" (Eine seltsame Untersuchung) von Ferhan Şensoy und "Sen Hiç Ateşböceği Gördün mü?" (Hast du kein Glühwürmchen gesehen) von Yılmaz Erdoğan.